Die Location hat ihren eigenen Charme: Das Begegnungscafé Navi an der Altenaer Straße 3 punktet mit einer eigentümlichen Mischung aus Wohnküche, Spielecke und guter Stube. Hier Sofalandschaft, dort rohe Wände – ein Wasserschaden hinterließ Spuren. Eine große Baustelle vor der Tür, das Innere heavy used aber doch gemütlich – das spricht alles für eine anspruchsvolle Aufgabe. Sinnfäller kann eine Örtlichkeit kaum sein, in der die Lüdenscheider Stadtgesellschaft über Demokratie, Stadtgesellschaft, Lokalpolitik spricht oder besser: sich abarbeitet. Im Telegrammstil: Demokratie ist nie fertig, bleibt Baustelle.

In der vielfältig genutzten Begegnungsstätte fand am Donnerstag, 4. September, organisiert vom „Lüdenscheider Bündmis für Demokratie“, ein sogenanntes „Kommunalpolitisches Navi“ statt. Hinter dem sperrigen Begriff verbarg sich nichts anderes als ein Speeddating mit der Kommunalpolitik, an dem rund 100 sowohl interessierte als auch gut informierte Lüdenscheider teilnahmen.   

Hinter dem Bündnis für Demokratie stehen gesellschaftlich relevante Gruppen und Organisationen wie die Arbeiterwohlfahrt, der Evangelische Kirchenkreis, die Lebenshilfe, das Evangelische Johanneswerk, der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Caritas, das Rote Kreuz Lüdenscheid und der DGB im Märkischen Kreis. In einem eigenen Wertekanon, einer Art Lüdenscheider Erklärung zur Würde des Menschen, formuliert das Bündnis acht Prinzipien des Miteinanders – beginnend mit einem Grundsatz 1 als Bekenntnis zum Grundgesetz und der verbrieften Unveräußerlichkeit der Würde des Menschen und endend mit dem Grundsatz 8: „Wir verurteilen jegliche Form der Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Religion, Geschlecht, Sexualität, Behinderung, sozialem Status, Bildung, Aussehen oder Alter.“ 

Weil sich Auftreten, Programmatik und Erklärungen der AfD mit diesem Grundsatz 8 beißen, hatte das Bündnis von einer Einladung der sog. „Alternative“ abgesehen und allein CDU, SPD, FDP, Grüne und die Linke zum Speeddating gebeten. Es war mithin das zweite Mal in Lüdenscheid, dass die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem erkannte AfD gesellschaftlich ausgesondert worden war – auch beim Bürgermeister-Check der Genossenschaft Bürger-Energie war die AfD unerwünscht.

Moderiert von Stefan Hesse von der Caritas und Michelle Wirth vom Evangelischen Johanneswerk wurden die Politiker gebeten, reihum für jeweils 15 Minuten an Thementische zu kommen und dort mit den Bürgern über Inklusion, Migration, Infrastruktur / Armutslösungen vor Ort, Stadtplanung / Zukunftsprojekte und Jugend zu sprechen. An jedem Thementisch – drei im Lokal, zwei „open air“ auf der Altenaer Straße – gab es Moderatoren, die beim jeweiligen Thema sattelfest, sehr gut informiert und meinungsstark waren.  

Für die CDU traten Susanne Mewes und Oliver Fröhling, für die SPD Sebastian Wagemeyer und Philipp Kallweit, für die Grünen Andreas Stach, für die FDP Jens Holzrichter und Bruno Schwarz sowie für die Linke Jennifer Schmidt und Otto Ersching an. Ihnen allen wurde von der Moderation ein Erinnerungstäfelchen „Würde“ mitgegeben – eine sanfte Mahnung, die sich nach zwei Stunden der Debatten als unnötig erwiesen hatte, weil sich an allen Tischen sehr respektvoll, sachorientiert und stets mit ernsthaft vorgetragenen Argumenten ausgetauscht wurde.

Die Linke am Thementisch.
Foto: Aschauer-Hundt

Die fünf Themenfelder erwiesen sich für alle Diskutanten als Parforceritt über alle relevanten Problemfelder der örtlichen Politik. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich im Nachhinein nicht als uniques Thema einer politischen Kraft identifizieren, sondern tauchten mehr oder weniger bei allen fünf Parteien auf – fünf Tische, fünf Parteien, gemeinsame Themenstellungen, die partei- und gesellschaftspolitisch sowie weltanschaulich gefärbt diskutiert wurden.

Da ging es um den Erhalt ortsnaher Infrastruktur und um geschlossene Sparkassenfilialen, um tote Läden, Geschäfteleerstand und Immobilienmanagement, um die Bezahlkarte für Flüchtlinge. Behandelt wurde die volldigitalisierte Schule mit ihren  Vor- und Nachteilen für Kindswohl und die Fertigkeit des handschriftlichen Schreibens, das Fehlen und das Schaffen von Begegnungsräumen und Treffpunkten in der Stadt. Wie bringt man die Wirtschaft wieder in Schwung, wie bringt man Jugend und Politik zusammen?

Die Grünen am Thementisch.
Foto: Aschauer-Hundt

Wie geht sozialer Wohnungsbau und welche Rolle spielt dabei die Lüdenscheider Wohnstätten AG? Ist sie als Aktiengesellschaft überhaupt für die Politik erreich- und steuerbar? Und wie ist das, wenn Investoren bauen und „Frankfurter Mietpreise in Lüdenscheid aufrufen“? Lässt sich die Politik beim P&C-Gebäude erpressen, wenn Büros für 30 Jahre angemietet werden müssen, damit sich im Karree Sauerfeld/Sternplatz etwas regt und ein Neubau entsteht?

Sollte man das Wahlalter weiter senken oder Jugendlichen andere Formen der Teilhabe am politischen Prozess eröffnen? Wird die Barrierefreiheit bei künftigen Bauvorhaben und der Entwicklung des öffentlichen Raumes mitgedacht? Wie kehrt Lüdenscheid nach der Wiedereröffnung der A 45 zur Normalität zurück; was heißt das für Straßenbau, Verkehrsplanung und Wegeführung? Wie geht es mit der Erneuerung der Schulen weiter?

Die FDP am Thementisch.
Foto: Aschauer-Hundt

Wie kann Integration weiter und besser gelingen? Gibt es „die“ Integration überhaupt oder sind unterschiedliche Konzepte für die Eingliederung osteuropäischer EU-Bürger, von Ukrainern und genuinen Geflüchteten erforderlich? Und bedeutet Integration die Aufgabe der ursprünglichen Identität oder ist sie vielmehr eine Form der gegenseitigen Bereicherung? Wie lassen sich Klimaschutz, ein Hitzeaktionsplan und eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität im innerstädtische Bereich verzahnen?

Die CDU am Thementisch.
Foto: Aschauer-Hundt

Was bedeutet es, eine 100prozentige Kita-Versorgung der Ü3-Kinder und eine 50prozentige Versorgung der U3-Kinder erreicht zu haben, wenn es durch permanente Ausfälle und befristete Arbeitsverträge der Erzieherinnen tatsächlich keine Verlässlichkeit in der Betreuung gibt? Geht das anders, geht das besser?

Fragen über Fragen, die sich an den Tischen stellten und die in großer Ernsthaftigkeit behandelt wurden. Es war ein Ringen im Sinne „Suchet der Stadt Bestes“ von Parteienvertretern, denen die Wahlkampfstrapazen bereits durchaus anzusehen waren. Politik, das wurde spürbar, ist keine Showveranstaltung, sondern Arbeit, ernstes Bemühen  -  und im besten Sinne auch kein Beharren auf der eigenen, einzigen Wahrheit. Durchaus möglich, dass ein anderer Vertreter, eine andere politische Kraft eine gute, eine bessere Idee hat!

Die SPD am Thementisch.
Foto: Aschauer-Hundt

Ein Teilnehmer brachte es auf diesen Nenner: „Die Wahrheit ist auf dem Platz – und alle politischen Vertreter arbeiten an den gleichen Problemen.“ Insofern war das Speeddating im Navi eine Mixtur aus Begegnung von Menschen und Politik auf allen hier möglichen Ebenen; es war ein ernsthaftes Bemühen  um Lüdenscheid.  

Im Schlusswort hoben alle – Moderation, Politiker, Bürger – den respektvollen Umgang aller mit allen hervor oder anders: Im Navi waren alle Beteiligten „aktiv demokratisch unterwegs“. Das ist der Kurs, den man sich an diesem Abend für die neue Legislaturperiode, für den neuen Rat und für den künftigen Inhaber des Bürgermeisteramtes wünschte.